ES+5 und letzte Therapiestunde

„Das ist ja jetzt unsere letzte Stunde erstmal. Fühlen Sie sich stark genug, dass ich Sie gehen lassen kann?“

Ehm… lassen Sie mich überlegen…. NEIN! Haha.

Irgendwie ja. Doch. Doch schon. Die Akuttherapie ist jetzt vorbei. 27 Stunden sind rum. So schnell.

Diese Zeit. Wie kann sie so schnell vergehen und sich doch so ziehen?

Gemein.

Mir haben die letzten Wochen und Monate in der Tat geholfen. Sie hat einen guten Job gemacht. Wieder einmal.

Meine Therapeutin, sie kennt mich schon eine Weile, hat es wieder geschafft, mir die nötigen Anstöße und Schubser zu geben. Das hat sie nach dem Tod meiner Schwester auch sehr gut hinbekommen. Da mussten wir uns zwar erst kennenlernen, aber nach 3 Jahren intensiver Zusammenarbeit muss ich sagen, weiß ich nicht, ob ich es ohne sie geschafft hätte. Ich war damals so traurig, so depressiv. Hab sehr viel Alkohol getrunken, bin wieder rückfällig geworden, was meine Bulimie, naja, anorektische Bulimie, angeht. Also entweder gar nix essen oder das, was gegessen wurde, wieder rausgekotzt. Bah.
Sie hat mir geholfen, die Trauer zuzulassen, sie wahrzunehmen.


Kleiner Exkurs:
Meine Schwester ist ganz unerwartet mit 25 verstorben.

Die Ärzte gehen von einer Lungenembolie aus.

Sie hat mich am Abend vorher noch gebeten, ob ich nicht „runter“ kommen kann, also nach Hessen. Ich habe gesagt, dass ich so viel arbeiten muss und nicht einfach frei machen kann jetzt. Dass das auch n ganz schöner Ritt immer is.
Sie war sehr traurig darüber, das hab ich gemerkt. Und mich hat es den ganzen Tag beschäftigt. Ich hatte ein schlechtes Gefühl, also ob ich runter müsste. „Aber ich bin so kaputt.“ Also nein. Ich bin nicht gefahren.

Sie muss am gleichen Abend noch ins Krankenhaus, mein Bruder hat sie gefahren. Sie hat Probleme beim Luftholen, kann kaum gehen. Im Krankenhaus bricht sie zusammen. Die Ärzte versuchen, sie wiederzubeleben, dabei reißt die Milz. Mein Bruder ist die ganze Zeit dabei. Es muss so schrecklich gewesen sein.

Am nächsten Morgen um ca. 8 Uhr ruft mein Vater mich an. Das werde ich nie vergessen. Er hat noch gesagt, dass sie ins Krankenhaus musste. Danach weiß ich von dem Telefonat nichts mehr. Ich bin gerade draußen, mit H., und es ist so schönes Herbstwetter. Die Sonne scheint, keine Wolke am Himmel, frische Morgenluft.


Der 02. Oktober 2011.

Als ich wieder zu mir komme, ich sitze auf dem Boden, mit dem Rücken gegen eine Hauswand gelehnt, steht ein Mann mit einem Glas Wasser neben mir: „Ich bin Seelsorger, darf ich Ihnen helfen.“ „Was? Warum?“ „Sie haben so laut geschrien und geweint.“
Ich kann mich daran nicht erinnern.


Die ganze Fahrt nach Hessen bin ich mir sicher, dass sie einfach im Krankenhaus ist. Ich hab noch gelacht und mir überlegt, wie ich sie gleich besuche, drücke, knutsche. Gesehen habe ich sie nicht mehr. Nicht mehr gedrückt, nicht mehr geknutscht.
Manchmal besucht sie mich in meinen Träumen, da will ich immer gar nicht aufwachen.


„Ihr Wünsche sind total in Ordnung. Sie sind nicht absurd oder unnormal oder sonst irgendwas. Sie wünschen sich eine Familie, sie wollen Mama werden und das ist total normal. Vergessen Sie das nicht. Bleiben Sie dran. Erklären Sie es S. immer und immer wieder, wenn es sein muss, aber bleiben Sie dran.“

Ja, ich schaff das. Die schwersten Schritte sind gemacht. Es stehen jetzt noch so ein, zwei andere Termine an, die nochmal knirschig werden könnten, aber das schaffen wir.

Der Termin fürs zweite Spermiogramm ist gemacht. Nächsten Mittwoch. Puh. Wegen der Ferienzeit, soll die Auswertung erst eine Woche später sein, meine Ärztin ist im Urlaub.

„Ehm, aber nächste Woche fängt der nächste Zyklus an. Und wir müssten eben schauen, wie es mit IUI weiter geht. Also nicht, dass es dann zu spät ist.“ – „Ach, sie wollen die IUI machen?“

Wie verwundert kann man als Sprechstunden-Lady in einer Kinderwunsch-Praxis denn wegen einer IUI sein, bitte?

„Ehm, also naja, es wurde mir mehr oder weniger empfohlen, von der anderen Ärztin. Und weil ich keine Zeit verlieren will, möchte ich einfach gerne sobald wie möglich hier nochmal die Beratung unter Berücksichtigung des neuen Spermiogramms.“

Sie quetscht uns also in den Freitag rein, weil es scheinbar wirklich dann zum Beginn des Zyklus klar sein muss. Aber das frag ich sie gar nicht. Finde sie mega unangenehm. Ich hab von ihr, was ich brauche und lasse es gut sein.

So, beide Termine gemacht. Das heißt, S. und ich müssen unsere Zahnarzttermine verschieben. Hoffentlich geht das. Als ich S. die Kunde überbringe, fang ich an zu weinen. Was sonst. Diese Stimmungsschwankungen. Furchtbar. Für Symptome ist es viel zu früh, deshalb muss es irgendwas anderes sein. Erschöpfung?

Ich fühle mich irgendwie schlecht, dass ich die Termine so reinquetsche, dass ich es „so übers Knie breche“.
Was ich ja eigentlich nicht tue. Seit sieben Monaten versuche ich schwanger zu werden. Übers Knie brechen sieht in meinem Altern anders aus.
Ich will keinen Monat verlieren.
Ein neuer Zahnarzttermin ist hoffentlich schnell möglich, hoffentlich nur eine Sache von Stunden oder Tagen. Statt Freitagvormittag vielleicht einfach Montagnachmittag?

Ich muss das mit S. besprechen.

„Was ist los, Baby?“
Wenn ichs nur wüsste. Stimmungsschwankungen, Unterleibsziehen, mir ist schwindelig und irgendwie übel. Es ist eine emotionale Achterbahn momentan. So krass.
Natürlich hoffe ich ganz ganz ganz insgeheim, dass es doch irgendwelche Anzeichen sind. Aber wie gesagt, dafür ist es eigentlich zu früh. Außerdem kann ich ja gar nicht sicher sagen, dass ich überhaupt einen Eisprung hatte.

„Warum solltest Du denn genau jetzt keinen gehabt haben?“
Hat S. ja recht, wenn er mich das fragt. Aber trotzdem. Es ist irgendwie schräg alles.
Wenn ich so gar keine Kontrolle habe.
Furchtbar.

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